3. Weg
Alija Izetbegovićs „Dritter Weg“ – Zwischen Osten und Westen, Islam und Moderne
„Weder westlich noch östlich, sondern islamisch“ – so lässt sich ein zentraler Gedanke aus dem politischen und geistigen Vermächtnis von Alija Izetbegović zusammenfassen. In seinem Werk entwickelte er eine klare Vision eines sogenannten „Dritten Weges“, der nicht nur als politische Strategie, sondern als ganzheitliches zivilisatorisches Modell verstanden werden muss. Dieser Weg sollte den Muslimen ermöglichen, sich zwischen den Extremen des westlichen Säkularismus und des östlichen Autoritarismus zu behaupten – auf der Grundlage islamischer Werte, aber im Dialog mit der modernen Welt.
Die Wurzeln der „Dritter-Weg“-Idee
Alija Izetbegović war kein einfacher Politiker – er war Denker, Jurist, Aktivist und tiefgläubiger Muslim. Sein Denken war geprägt von der Spannung zwischen Tradition und Moderne, Glaube und Vernunft, Ost und West. Die bittere Erfahrung des Kommunismus in Jugoslawien, aber auch die kritische Beobachtung des Westens, führten ihn zur Überzeugung: Weder der atheistische Sozialismus noch der konsumorientierte Liberalismus können die menschliche Seele wirklich nähren. Beide Modelle verfehlen aus seiner Sicht den ganzheitlichen Menschen – als geistiges wie auch gesellschaftliches Wesen.
Was ist der „Dritte Weg“?
Der „Dritte Weg“ ist in Izetbegovićs Denken ein Versuch, das islamische Weltbild in die Realität einer modernen, pluralen Gesellschaft zu übertragen. Es handelt sich dabei nicht um eine Rückkehr in eine vormoderne Zeit, sondern um einen Fortschritt auf islamischer Grundlage. Dieser Weg:
- lehnt die Entfremdung durch materialistische Ideologien ab (wie Marxismus oder kapitalistischen Individualismus),
- bejaht Fortschritt, Wissenschaft und Demokratie, solange diese im Einklang mit ethischen und spirituellen Werten stehen,
- fordert Muslime dazu auf, sich aktiv an der Gestaltung ihrer Gesellschaft zu beteiligen, ohne ihre islamische Identität aufzugeben.
Izetbegović war überzeugt, dass der Islam keine bloße Religion im westlichen Sinn sei – sondern eine Lebensordnung (arab. al-Din), die sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft zu erfassen vermag. Der „Dritte Weg“ bedeutet also, dass ein Muslim sowohl gläubig als auch gebildet, sowohl traditionsbewusst als auch modern, sowohl spirituell als auch politisch verantwortlich sein kann.
Der Dritte Weg in Bosnien
Die Vision des „Dritten Weges“ war für Alija Izetbegović nicht nur ein theoretisches Konzept, sondern eine Richtschnur für die Realität – besonders in Bosnien und Herzegowina. Nach dem Zerfall Jugoslawiens und dem folgenden Krieg sah er die Chance, ein neues Modell muslimischer Identität in Europa zu etablieren: Einen modernen europäischen Staat, der das muslimische Erbe nicht verleugnet, sondern integriert. Dabei ging es ihm nicht um religiöse Vorherrschaft, sondern um ein pluralistisches Miteinander, in dem der Islam nicht als Problem, sondern als Teil der Lösung verstanden wird.
Kritik und Missverständnisse
Izetbegovićs „Dritter Weg“ wurde oft missverstanden – teils absichtlich. Seine Betonung der islamischen Weltanschauung wurde von politischen Gegnern als „Fundamentalismus“ diffamiert. Doch wer seine Schriften unvoreingenommen liest, erkennt einen konsequenten Ruf zur Toleranz, Bildung, Gerechtigkeit und inneren Reform.
Sein Werk „Die Islamische Deklaration“ wurde in diesem Zusammenhang häufig verzerrt wiedergegeben. Izetbegović rief darin nicht zur Errichtung einer Theokratie auf, sondern vielmehr zur Rückbesinnung auf islamische Prinzipien in einer modernen Gesellschaft. Der „Dritte Weg“ ist somit keine Abgrenzung, sondern eine Vermittlung – zwischen Religion und Vernunft, Tradition und Fortschritt, Osten und Westen.
Fazit: Ein Weg der Mitte – für eine neue muslimische Selbstdefinition
Der „Dritte Weg“ von Alija Izetbegović ist heute aktueller denn je. In einer Zeit, in der Muslime weltweit mit Polarisierung, Identitätsfragen und gesellschaftlicher Ausgrenzung konfrontiert sind, bietet sein Denken eine Orientierung: Nicht in der Anpassung an den Mainstream oder in der Abschottung liegt die Lösung, sondern im bewussten, selbstbewussten Gestalten einer islamisch fundierten Moderne.
Sein „Dritter Weg“ ist letztlich ein Ruf zur aktiven Verantwortung – für Muslime, für die Gesellschaft, für die Menschheit.
„Der Islam ist weder Ost noch West. Der Islam ist die Synthese.“
– Alija Izetbegović
Weitere Lesetipps:
- Islam zwischen Ost und West, Alija Izetbegović
- Randbemerkung zu dem Buch „Islam zwischen Ost und West“, Alija Izetbegović
- Meine Flucht in die Freiheit: Notizen aus dem Gefängnis 1983-1988, Alija Izetbegović
- Erinnerungen: Autobiographische Aufzeichnungen, Alija Izetbegović
- Die Islamische Deklaration, Alija Izetbegović
- Probleme der Islamischen Wiedergeburt, Alija Izetbegović
- Muslimische Denker – Zwischen Tradition und Moderne, Hrsg. Ecevit Polat, Artikel: Alija Izetbegović (1925-2003), Ein muslimischer Aktivist zwischen Ost und West, Serdar Yücedag.
Alija Izetbegovićs Bosnien-Traum
Europäisch und muslimisch – in einem Land, in einem Herzen
Alija Izetbegović hatte einen Traum. Einen Traum von einem Land, das nicht durch ethnische Grenzen definiert ist, sondern durch gemeinsame Werte. Einen Ort, an dem der Islam nicht im Widerspruch zur Moderne steht – sondern sie ergänzt. Einen Staat, in dem das Zusammenleben der Religionen nicht als Ausnahme, sondern als Normalität gilt. Dieser Traum hatte einen Namen: Bosnien.
Mehr als ein Land – eine Idee
Für Izetbegović war Bosnien nicht nur ein geografischer Raum. Es war eine Idee. Ein Symbol für ein harmonisches Miteinander von Kulturen, Religionen und Lebensweisen. Er verstand Bosnien als einen Ort, an dem ein Mensch zugleich Muslim und Europäer sein kann – ohne Widerspruch, ohne Zerrissenheit.
In einer Welt, in der Muslime oft zwischen zwei Identitäten hin- und hergerissen werden – entweder als „nicht-westlich“ wahrgenommen oder als „nicht-gläubig“ genug –, zeigte Bosnien eine dritte Möglichkeit: Man kann europäisch sein und muslimisch. Diese Synthese war für Alija nicht nur möglich, sondern notwendig. Und wer so lebt, ist in seinem Verständnis ein Bosnier – unabhängig von Herkunft oder Ethnie.
Bosnier, nicht nur Bosniak
Ein wichtiger Punkt, den Izetbegović immer wieder betonte: Seine Vision von „Bosniersein“ war nicht ethnisch gemeint. Er sprach nicht vom Bosniaken im Sinne einer Volksgruppe, sondern vom Bosnier im zivilisatorischen Sinn. Für ihn konnte ein Bosnier muslimisch, christlich, jüdisch oder nichtreligiös sein – so lange er sich zu einem gemeinsamen Land und zu gemeinsamen Werten bekannte: Toleranz, Freiheit, Gerechtigkeit.
Bosnien war in seiner Vorstellung ein Modellstaat, ein Gegenentwurf zu ethnisch homogenen Nationalstaaten. Ein Land, das sich durch seine Vielfalt definiert – und genau darin seine Stärke findet.
Sarajevo – Mikrokosmos der Vision
Ein Blick nach Sarajevo zeigt, was Izetbegović meinte. Im Herzen der Altstadt, rund um die Baščaršija, findet man auf nur wenigen hundert Metern:
- Die Gazi-Husrev-Beg-Moschee,
- Die katholische Herz-Jesu-Kathedrale,
- Die orthodoxe Kirche des Erzengels Michael,
- Und die Sephardische Synagoge.
Vier Glaubensrichtungen, nebeneinander, seit Jahrhunderten. Dieses Nebeneinander ist nicht nur geographisch, sondern auch symbolisch: Sarajevo – und damit Bosnien – zeigt, dass ein Zusammenleben nicht nur möglich, sondern fruchtbar ist.
Ein Traum gegen die Realität
Natürlich war dieser Traum nicht immer Realität. Der Krieg in den 1990er-Jahren war der bittere Beweis dafür, wie verletzlich dieses Modell ist. Doch Izetbegović hielt an seiner Idee fest – gerade in der dunkelsten Zeit. Für ihn war der Weg nach vorne nicht ethnische Trennung, sondern zivilisatorische Versöhnung.
Er glaubte fest daran: Bosnien kann überleben, wenn es sich nicht in Lager aufspaltet, sondern wenn es ein gemeinsames Dach für seine Vielfalt bietet. Und wer an diese Idee glaubt – egal ob in Sarajevo, Berlin oder Wien – ist ein Teil dieses Bosnien-Traums.
Fazit: Bosnien als Haltung
Alija Izetbegovićs Bosnien ist nicht nur ein Ort, sondern eine Haltung.
Wer als Muslim in Europa lebt, wer für friedliches Zusammenleben einsteht, wer glaubt, dass Glaube und Moderne vereinbar sind – der lebt in gewisser Weise diesen Traum weiter.
In einer Zeit wachsender Polarisierung bleibt dieser Traum ein Kompass:
Nicht entweder-oder. Sondern sowohl-als-auch.
Nicht Trennung, sondern Begegnung.
Nicht Angst, sondern Hoffnung.
„Ich bin ein Europäer – und ich bin Muslim. Und ich bin stolz, beides zu sein.“
– Alija Izetbegović